Zeit und Raum sind biegsam
Alfred
Goubran eröffnet Parallelwelten
Elias
lebt ein verpflichtungsloses Dasein auf niedrigem Niveau, sein Zimmer
gehört dem Vater, das Geld bringen Gelegenheitsjobs, die nicht an
die Substanz gehen. So kann er sich Zukunftsplänen verweigern.
Die
Handlung spielt zu einer Zeit, als in Zügen noch geraucht werden
darf. Trotz reduzierten Lebens und nikotingelber Zähne bekommt Elias
regelmäßigen Damenbesuch. Gleich zu Beginn nimmt der Ich-Erzähler
durch einen tendenziell moralisierenden Einschub das Tempo heraus
(ungelebtes, uneigentliches Leben, verkniffene Träume, Spießbürger
und ihre Geschäfte, you
name it). Wer dieses Ich
ist, das Elias an die Ränder der Stadt folgt und Einblick in seine
Kindheit hat, bleibt ungeklärt, es taucht auch später nicht mehr
auf. Tempus und Perspektive werden immer wieder wechseln.
Dann
kommt die Handlung in Gang: Elias soll für einen Freund
beträchtliche Mengen Gras zwischenlagern. Das ist der Ausgangspunkt,
von dem aus sich zwei Erzählungen entspinnen, die in parallele
Welten führen. Als der Freund die Marihuanasäcke nicht wieder
abholt, verkauft Elias sie selbst und macht sich mit dem Erlös davon
– er will zum ersten Mal das Meer sehen. Von hier an werden
Passagen eingeblendet, in denen Elias(?) mit einer Erkrankung zu
kämpfen hat. Die Grenzen zwischen Fiebertraum, Halluzination und
Erinnerungen verschwimmen, das Zeitgefühl ist perdu.
Die
Zugreise zum Meer endet in einem Skigebiet, die Busfahrt über den
Pass mit einem Felssturz, der heimliche Fußmarsch über die Grenze
in der Irre. Goubran nimmt sich hier die alte Stadt-Land-Dialektik
noch einmal vor: von der urbanen Eremitage in die Bergödnis –
einsam bist du sowieso. Auch diese Erzählung hat etwas Unwirkliches,
Traumwandlerisches, etwa die Sicherheit, mit der Elias gerade vor
Einbruch der Winternacht auf eine rettende Heuhütte stößt, wie er
am nächsten Tag von einer Alten und einem buckligen(!) Jungen
gefunden wird. Die beiden wirken seltsam aus der Zeit gefallen, so
wie alle Bewohner der Holzhütten, in die sie ihn mitnehmen. Elias
bekommt die Kleidung vom Sohn, der im Krieg geblieben sein soll. Am
nächsten Tag will er eigentlich über die Grenze, folgt aber spontan
den Schneestapfen der Alten, die ihn zum "Schwarzen Schloss"
führen. Hier könnte man an Kafka denken, vielleicht sogar an einen
seltsamen "Nachsommer", aber das führt nicht weit.
Spätestens
im Schloss, mitten im Niemandsland, wird's endgültig mysteriös.
Isabel tritt auf, Schlossbesitzerin, Privatgelehrte und
Hirnforscherin. Sie klärt Elias auf, dass die Bewohner des Dorfes
unter "Verrindung", an "mimetischer Progerie"
litten und in Wahrheit noch gar nicht so alt seien. Wieder verliert,
wer eine zeitliche Einschätzung vorgenommen hat, den Boden unter den
Füßen.
Goubran,
unlängst 50 geworden, ist bekannt als Übersetzer,
Literaturkritiker, Essayist, Songwriter (demnächst erscheint das
Album "Die Glut", das er mit der halben Mannschaft von
"Naked Lunch" eingespielt hat). Seit dem Ende seines
Verlags "edition selene" arbeitet er wieder verstärkt
selbst als Literat.
Während
er in Essays und Interviews dezidiert politisch Stellung bezieht
("Das Land ist schön, die
Gegend ist schrecklich"),
geht es ihm literarisch um das Schaffen und Wahren von Geheimnissen.
Das ist ihm programmatisch, nur im Opaken bestehe die Möglichkeit
für Neues. Dementsprechend ermöglicht "Durch die Zeit in
meinem Zimmer" die Wahl. Hat Elias das Zimmer überhaupt
verlassen? Oder kommt er aus dem Schwarzen Schloss nicht mehr heraus?
In
die sprachlich dichten Erzählungen mischen sich immer wieder visuell
ins Detail gehende Beschreibungen. Dazu kommen phänomenologische
Reflexionen über Wahrnehmung und Erinnerung. Dinge erinnern sich von
selbst. Die Offenheit der Perspektiven ist der Aufmerksamkeit beim
Lesen aber förderlich. Man bleibt bei der Sache, um den Anschluss
nicht zu verlieren.
Goubran
will viel, schafft viel, löst nicht alles ein. Möglicherweise tut
ihm Thomas Weber keinen Gefallen, wenn er ihn auf der Rückseite als
den "vielleicht größten Autor, den Österreich derzeit zu
bieten hat" tituliert. Vehement widersprechen wird man nach
"Durch die Zeit in mein Zimmer" aber auch nicht. Nicolas
Mahler gestaltet Goubran nicht von ungefähr regelmäßig das Cover.
Alfred
Goubran: Durch die Zeit in meinem Zimmer. Braumüller, 196 S., €
19,90