Donnerstag, 6. August 2015

Lisa Spalt: Ameisendelirium

Gedanken, „als die du ein paar müde Vögel sich im Staub baden siehst“? Was für ein Bild! Oder das Paradoxon: „Dein individueller Wille ist der, im Willen der Allgemeinheit aufzugehen.“ In ihren 37 Texten, kaum einer länger als zwei, drei Seiten, beginnt Spalt oft beim Alltäglichen, etwa im Arbeitsamt oder bei der Lust auf eine Leberkäsesemmel, um dann das Niveau an den Plafond zu fahren. Einmal nicht aufgepasst, schütteln sie die unaufmerksame Leserin sofort ab. Aber daran ist nichts Falsches, man lese eben achtsam! Teil der Komplexität ist nicht nur die inhaltliche Dichte, sondern die grammatikalische Ausführung: Wie Ameisen im Bau wuseln die Satzteile, ein jedes wichtig, aber ohne auf den allerersten Blick erkennbare Hierarchie. Wer dran bleibt, folgt Spalt ins Zwischenreich von Natur und Kultur, Partikel und Masse, Geisteswissenschaft und Hoch-, Tief- oder Gabelstapeln. Im Idealfall erschließt sich ihr hintergründiger Witz, wie im Exegese-Exkurs zur erwähnten Leberkäsesemmel, die ja als ungesund sei. „Einspruch: Die Natur hat die Länge des Lebens so geplant, dass du Kinder großziehen kannst und nicht mehr.“ Gesunde Ernährung sei deswegen eine künstliche Verlängerung der Existenz.
Der Czernin Verlag hat sich erneut um anspruchsvolle Literatur jenseits gängiger Schubladen verdient gemacht. Die skurrilen und schönen Illustrationen der Autorin machen die Sache komplett.

Lisa Spalt: Ameisendelirium. Czernin Verlag

Dienstag, 4. August 2015

Walter Kohl: Ein Bild von Hilda als toter Mensch

Der plötzliche Tod seiner Mutter holt den Schriftsteller Charly von den Füßen. Er fotografiert sie zunächst ohne Hintergedanken, um sich später an diesem Bild abzuarbeiten. Mit einem Mal findet sich die Leserin in einem Gespräch zwischen ihm und einem Therapeuten wieder. Ist der Text ein Stück Trauerarbeit, obwohl das „ebenso wenig bewirkt wie das Trauern eines Bäckers durch Brotbacken“? Der Erzähler erweist sich als unzuverlässlich, wie das Erzählen an sich. Ist die ganze Familiengeschichte nur gelogen? Sie führt zurück in die herbe Jugend, in eine Aulandschaft, die heute im Staubereich verschwunden ist. Kohl/Charly sind nicht willens, dem Dorfleben eine falsche Idyllik abzugewinnen, nur weil jetzt alle das Landleben so schön finden. Seit die Welt ein Dorf ist, gibt es das Dorf nicht mehr. So wie die Mutter zu verschwinden droht, denkt Charly, wenn er sich kein eigenes Bild von ihr macht; von einem „kleinen“, nicht ganz siebzigjährigem Frauenleben, das in mittelalterlicher Armut begann und in der Gegenwart verlischt.
Nach „Spuren in der Haut“, in dem Kohl über das Leben seines Vaters geschrieben hatte, wendet er sich – wieder ganz nahe an seiner eigenen Biographie – der Mutter zu. Der Roman ist mehr als eine Familiengeschichte; er fußt in der Gegenwart und ist doch archaisch in seinem Kreisen um die großen Themen. Das „Bild von Hilda als toter Mensch“ ist nicht nur die Klage des verlassenen Sohnes, sondern eine Annährung an ein Leben, das „das Eigentliche versäumt hat.“ Beim Begräbnis kommt die Wut: „Wer seid ihr, dass ihr diese harmlose, sich bis zur Selbstaufgabe immer und überall in den Hintergrund zurücknehmende Frau eine Sünderin nennt!, hatte es getobt in Charly.“
Kohl blutet beim Schreiben. Ein weiterer großer Text.


Walter Kohl: Bild von Hilda als toter Mensch. Picus Verlag