Mittwoch, 15. Oktober 2014

Nadine Kegele: Bei Schlechtwetter bleiben die Eidechsen zu Hause

Frausein ist immer noch nicht lustig

Nadine Kegele versöhnt Poesie und Politik

Einen gesunden Hund einschläfern lassen, nur weil er blad ist? Nadine Kegele wagt sich in ihrem Romandebüt gleich zu Beginn auf gefährliches Terrain: Bei der Liebe zum Haustier versteht der Österreicher an sich wenig Spaß.
Nora (wir dürfen ein bisschen an Ibsen denken) hat ihren Arbeitsplatz in der Mahnabteilung eines Energiekonzerns verloren und sieht sich mit Anfang 30 bei jedem neuen Arbeitgeber unter "Generalverdacht" in Sachen Schwangerschaft. Sie müht sich mit der Abendschule herum und findet sich nur unter innerem Protest mit der schönen Ex und der Tochter ihres Freundes Anton ab. Noras einst überforderte, alleinerziehende Mutter (die "keine Begabung für Familie" hat) liegt im Koma – es ist deren Hund, den sie töten hat lassen, aus Mitleid, denn einen dicken Spaniel wolle doch niemand adoptieren, das sei ja wie bei den dicken Kindern.
Überhaupt ist die Rolle der Tiere (Katzen, Hunde, Blutegel, Hamster, Ameisen) bedeutsam. Nora beneidet sie um das Fehlen innerer Erschütterung. "Diese Tiere leben nicht zum Spaß und dennoch sehen sie nicht unglücklich aus." Sie mag die titelgebenden Eidechsen ihrer Sollbruchstelle wegen, an der sie ihren Schwanz abwerfen können; am liebsten wäre es ihr, gleich gar kein zentrales Nervensystem zu haben. Und: "Haustiere sind gut gegen einsam". Sie dienen als Methadon beim Sozialentzug. Als es Nora den Einsiedlerkrebsen gleichtut und ihre Wohnung nicht mehr verlässt, reicht ihr der illegal einbehaltene Gastkater Juri als Gesellschaft.
Protagonisten, die sich vor der krisenhaften Gegenwart und deren Ansprüchen eremitisch zurückziehen, das ist als Thema derzeit nichts ganz Neues. Wie Kegele das in lakonischer, bildstarker Sprache einlöst, ist lesenswert. Ihr Text umfasst auf zwei Zeitebenen die Biographien von Mutter und Tochter (wobei das alles nicht so einfach ist). Dazu kommen, sparsam und eindrücklich erzählt, Lebensgeschichten wie etwa jene der alten Nachbarin Sarah Tänzer, die ihre Tochter im Holocaust verloren hat. Aber, so wird sich Nora eingestehen, das eigene Unglück ist immer das größte. Und Selbstmitleid ist hart erarbeitet.
Abgesehen von Anton, der Noras mangelnde Nähe beklagt, sind männliche Sympathieträger rar. Klar, es geht Kegele um Feminismus. Es war früher nicht besonders lustig, eine Frau zu sein, recht viel schöner ist's aber heute auch nicht. "Du wirst schon sehen, die Natur holt die Frauen bei den Kindern ein", heißt es, und "so ein Körper tut mit der Frau ja, was er will". Es ist ein großes Hinnehmen von Kindern, Männern, Arbeitgebern.
Nora hat einen früheren Partner mit Kinderpornos erwischt und beginnt eine Therapie bei der "Kaiserin" die sie fortan als innere Stimme der Vernunft begleitet. Wie schon ihre Mutter hat Nora keine besondere Begabung für Beziehungen; immerhin gelingt es ihr schon viel eher, nicht in eine Opferrolle zu geraten. Und bei allen Reibungen mit ihren Bobo-Freundinnen bleibt am Ende immerhin die Freundschaft.
Arbeitswelten, Patchwork, in der Retorte gezeugte "Halbwesen" (böse Frau Lewitscharoff!), ein "Nekrophilenkonglomerat": Kegele ist thematisch nahe an der Gegenwart. Die Figuren sind glaubwürdig, deren Handlungen plausibel. Sie beherrscht den Einsatz von Leerstellen. Immer wieder ragen Sätzen oder bewusste Tippfehler ("Furchtsaft") aus dem Erzählfluss.
Die in Wien lebende Vorarlbergerin hat sich zuletzt im Literaturbetrieb etabliert, sein Produkt ist sie nicht. So viel zur Debatte, ob denn heute die Literatur nur noch von Ärztekindern geschrieben werde. Autorin wurde Kegele auf dem zweiten Bildungsweg. Da sie seit ihrem 16. Lebensjahr arbeitet, weiß sie Bescheid, wenn sie über Lohnarbeit schreibt. Deswegen sind ihre Texte dem Engagement ebenso verpflichtet wie der Poesie. Hier schreibt eine, die der eigenen Stimme selbst Raum schaffen musste. Sie löst damit die Erwartungen ein, die sie im Vorjahr mit dem Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb geweckt hat. Apropos Erwartungen: "Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause" ist der Beginn einer Trilogie.
Blaustrümpfig wird Kegeles literarischer Feminismus nie, in den Tagebucheinträgen, in denen Nora ihren Rückzug dokumentiert, ist der Text fast schon komisch. Ihr schönster Gedanke kommt Nora, als sie auf dem Spielplatz zornig streitende Kinder beobachtet und sich wünscht, dass Erwachsene es wagen würden, im Arbeitsamt oder bei Bewerbungsgesprächen auch so in Rage zu geraten.


Nadine Kegele: Bei Schlechtwetter bleiben Eidechsen zu Hause. Czernin, 320 S., 23 Euro

Maria Matios: Mitternachtsblüte

Gegen das Böse ist kein Kraut gewachsen

Maria Matios erzählt vom Ende der Multikulturalität in der Bukowina
Tscheremoschne, ein Dorf im Grenzwald zwischen der Ukraine und Rumänien ist kein guter Ort für jugendliche Sonderlinge, schon gar nicht 1940. Die Bukowina, seit je her Spielball der Mächte, dient Matios erneut als Schauplatz eines ihrer Romane. Sie selbst wurde 1959 im einst ethnisch bunten "Buchenland" geboren, das bis 1918 Teil der Habsburgermonarchie war. Der Zweite Weltkrieg kam über die Bukowina wie eine Naturgewalt, sie geriet wiederholt zwischen die Fronten, wurde zu dem, was Timothy Snyder "Bloodlands" und Martin Pollack "kontaminierte Landschaft" nennt: Zuerst wird sie durch die Rote Armee annektiert, die vermeintliche Konterrevolutionäre zu Tausenden nach Zentralasien deportiert. Im Juni 1941 fällt die deutsche Wehrmacht ein und beginnt sofort mit dem Holocaust.
Davon erzählt Matios in der "Mitternachtsblüte"; wie in ihrem letzten Roman "Darina, die Süße" aus Frauenperspektive, von einer Randfigur, die an einer stigmatisierenden Krankheit leidet: Das wunderliche Kind Iwanka hat Epilepsie. Fast ein Viertel des Buches nimmt sich Matios Zeit, das dörfliche Leben zu beschreiben, beinahe eine Idylle – wenn auch mit prügelndem Vater und bäuerlicher Subsistenzwirtschaft: eine noch nicht elektrifizierte Welt, in der man um den toten Vater weint, aber nicht um den Säugling, weil die Mutter ohnehin jedes Jahr schwanger ist. In der Mädchen mit 14 verheiratet werden: "Ein Mädel soll lange Hahre haben, doch einen kurzen Verstand." Das kennt man aus der heimischen Anti-Heimatliteratur, nicht aber das Zusammenleben von Ruthenen, Rumänen, Polen, Deutschen, Huzulen, Bojken und Lemken. Die jüdischen Nachbarn sollen zwar die Kirche nicht betreten, aber man heizt ihnen bereitwillig am Sabbat den Ofen an. Man weiß, dass es ihnen seit jeher als erste an den Kragen geht, doch herrscht eine gewisse Indolenz, "das geht uns nichts an."
Matios' Sprache ist einfach, ihre Klarheit lässt erkennen, wovon zu erzählen ist. Die Dialoge haben zuweilen eine stifterartige Förmlichkeit. Die volkstümliche Gläubigkeit des Kindes sowie das Unverständnis von Eltern und Dorfgemeinschaft beschreibt Matios mehr als genau. Iwanka schneidet sich nach falsch verstandenem Brauchtum in die Hand, weder Hexe noch Heiler können ihren Arm retten, am Ende muss der jüdische Wanderdoktor die Blutvergiftung stoppen. Sie will Hagel mit blankem Hintern vertreiben, eine unliebsame Schwägerin mittels der getrockneten Speiseröhre eines Wolfes verfluchen, die überall lauernden Teufel mit Kräutern bannen. Die Leserin weiß schon: Das große Unheil kommt erst, und kein Zauber wird es aufhalten. "Das Paradies ist im Himmel, hat die Großmutter gesagt, und die Hölle ist auf Erden."
Die Enge des Dorfes, die archaische Schicksalergebenheit, die gewachsenen ethnischen Ressentiments sind nichts im Vergleich zur modernen, maschinellen Gewalt, die nun über Tscheremoschne hereinbricht. Matios schildert eine Landschaft, die ihre Unschuld verliert. Das zeichnet sich ab, als der galizische Schmuggler Petro erzählt, die Polen seien vor den Deutschen gefallen "wie eine angesägte Föhre, ... die Menschen und Länder werden aussortiert wie Nüsse". Kurz darauf beginnen die Sowjets, die Dorfgemeinschaft auseinanderzureißen, das wahre Morden passiert unter den Deutschen. Mitten drin Iwanka, deren kindlicher Aberglaube sich in ungläubiges Entsetzen über die Gräueltaten verwandelt. Das Ende der Bukowina ist bekannt, jenes des Romans lässt zumindest eine kleine, individuelle Hoffnung.
Matios geht es um "Wahrheit, Reue und Vergebung". Sie fiel unter dem Oligarchen Janukowitsch in Ungnade und und kandidierte nach dessen Sturz erfolgreich für das ukrainische Parlament. Nicht zuletzt deswegen ist sie eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes, die auch ins Chinesische und Japanische übersetzt wurde. Bei der "Mitternachtsblüte" übernahm dies Maria Weissenböck (verdienstvoll, bis auf "die Großmutter lernte ihr"). Das in der "Mitternachtsblüte" oft wiederholte Motiv der streitenden Brüder illustriert wohl auch den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine.


Maria Matios: Mitternachtsblüte. Haymon, 224 S., 19,90 Euro. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck