Dienstag, 4. August 2015

Walter Kohl: Ein Bild von Hilda als toter Mensch

Der plötzliche Tod seiner Mutter holt den Schriftsteller Charly von den Füßen. Er fotografiert sie zunächst ohne Hintergedanken, um sich später an diesem Bild abzuarbeiten. Mit einem Mal findet sich die Leserin in einem Gespräch zwischen ihm und einem Therapeuten wieder. Ist der Text ein Stück Trauerarbeit, obwohl das „ebenso wenig bewirkt wie das Trauern eines Bäckers durch Brotbacken“? Der Erzähler erweist sich als unzuverlässlich, wie das Erzählen an sich. Ist die ganze Familiengeschichte nur gelogen? Sie führt zurück in die herbe Jugend, in eine Aulandschaft, die heute im Staubereich verschwunden ist. Kohl/Charly sind nicht willens, dem Dorfleben eine falsche Idyllik abzugewinnen, nur weil jetzt alle das Landleben so schön finden. Seit die Welt ein Dorf ist, gibt es das Dorf nicht mehr. So wie die Mutter zu verschwinden droht, denkt Charly, wenn er sich kein eigenes Bild von ihr macht; von einem „kleinen“, nicht ganz siebzigjährigem Frauenleben, das in mittelalterlicher Armut begann und in der Gegenwart verlischt.
Nach „Spuren in der Haut“, in dem Kohl über das Leben seines Vaters geschrieben hatte, wendet er sich – wieder ganz nahe an seiner eigenen Biographie – der Mutter zu. Der Roman ist mehr als eine Familiengeschichte; er fußt in der Gegenwart und ist doch archaisch in seinem Kreisen um die großen Themen. Das „Bild von Hilda als toter Mensch“ ist nicht nur die Klage des verlassenen Sohnes, sondern eine Annährung an ein Leben, das „das Eigentliche versäumt hat.“ Beim Begräbnis kommt die Wut: „Wer seid ihr, dass ihr diese harmlose, sich bis zur Selbstaufgabe immer und überall in den Hintergrund zurücknehmende Frau eine Sünderin nennt!, hatte es getobt in Charly.“
Kohl blutet beim Schreiben. Ein weiterer großer Text.


Walter Kohl: Bild von Hilda als toter Mensch. Picus Verlag

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