Mittwoch, 25. November 2015

Alfred Goubran: Durch die Zeit in meinem Zimmer

Zeit und Raum sind biegsam

Alfred Goubran eröffnet Parallelwelten
Elias lebt ein verpflichtungsloses Dasein auf niedrigem Niveau, sein Zimmer gehört dem Vater, das Geld bringen Gelegenheitsjobs, die nicht an die Substanz gehen. So kann er sich Zukunftsplänen verweigern.
Die Handlung spielt zu einer Zeit, als in Zügen noch geraucht werden darf. Trotz reduzierten Lebens und nikotingelber Zähne bekommt Elias regelmäßigen Damenbesuch. Gleich zu Beginn nimmt der Ich-Erzähler durch einen tendenziell moralisierenden Einschub das Tempo heraus (ungelebtes, uneigentliches Leben, verkniffene Träume, Spießbürger und ihre Geschäfte, you name it). Wer dieses Ich ist, das Elias an die Ränder der Stadt folgt und Einblick in seine Kindheit hat, bleibt ungeklärt, es taucht auch später nicht mehr auf. Tempus und Perspektive werden immer wieder wechseln.
Dann kommt die Handlung in Gang: Elias soll für einen Freund beträchtliche Mengen Gras zwischenlagern. Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich zwei Erzählungen entspinnen, die in parallele Welten führen. Als der Freund die Marihuanasäcke nicht wieder abholt, verkauft Elias sie selbst und macht sich mit dem Erlös davon – er will zum ersten Mal das Meer sehen. Von hier an werden Passagen eingeblendet, in denen Elias(?) mit einer Erkrankung zu kämpfen hat. Die Grenzen zwischen Fiebertraum, Halluzination und Erinnerungen verschwimmen, das Zeitgefühl ist perdu.
Die Zugreise zum Meer endet in einem Skigebiet, die Busfahrt über den Pass mit einem Felssturz, der heimliche Fußmarsch über die Grenze in der Irre. Goubran nimmt sich hier die alte Stadt-Land-Dialektik noch einmal vor: von der urbanen Eremitage in die Bergödnis – einsam bist du sowieso. Auch diese Erzählung hat etwas Unwirkliches, Traumwandlerisches, etwa die Sicherheit, mit der Elias gerade vor Einbruch der Winternacht auf eine rettende Heuhütte stößt, wie er am nächsten Tag von einer Alten und einem buckligen(!) Jungen gefunden wird. Die beiden wirken seltsam aus der Zeit gefallen, so wie alle Bewohner der Holzhütten, in die sie ihn mitnehmen. Elias bekommt die Kleidung vom Sohn, der im Krieg geblieben sein soll. Am nächsten Tag will er eigentlich über die Grenze, folgt aber spontan den Schneestapfen der Alten, die ihn zum "Schwarzen Schloss" führen. Hier könnte man an Kafka denken, vielleicht sogar an einen seltsamen "Nachsommer", aber das führt nicht weit.
Spätestens im Schloss, mitten im Niemandsland, wird's endgültig mysteriös. Isabel tritt auf, Schlossbesitzerin, Privatgelehrte und Hirnforscherin. Sie klärt Elias auf, dass die Bewohner des Dorfes unter "Verrindung", an "mimetischer Progerie" litten und in Wahrheit noch gar nicht so alt seien. Wieder verliert, wer eine zeitliche Einschätzung vorgenommen hat, den Boden unter den Füßen.
Goubran, unlängst 50 geworden, ist bekannt als Übersetzer, Literaturkritiker, Essayist, Songwriter (demnächst erscheint das Album "Die Glut", das er mit der halben Mannschaft von "Naked Lunch" eingespielt hat). Seit dem Ende seines Verlags "edition selene" arbeitet er wieder verstärkt selbst als Literat.
Während er in Essays und Interviews dezidiert politisch Stellung bezieht ("Das Land ist schön, die Gegend ist schrecklich"), geht es ihm literarisch um das Schaffen und Wahren von Geheimnissen. Das ist ihm programmatisch, nur im Opaken bestehe die Möglichkeit für Neues. Dementsprechend ermöglicht "Durch die Zeit in meinem Zimmer" die Wahl. Hat Elias das Zimmer überhaupt verlassen? Oder kommt er aus dem Schwarzen Schloss nicht mehr heraus?
In die sprachlich dichten Erzählungen mischen sich immer wieder visuell ins Detail gehende Beschreibungen. Dazu kommen phänomenologische Reflexionen über Wahrnehmung und Erinnerung. Dinge erinnern sich von selbst. Die Offenheit der Perspektiven ist der Aufmerksamkeit beim Lesen aber förderlich. Man bleibt bei der Sache, um den Anschluss nicht zu verlieren.
Goubran will viel, schafft viel, löst nicht alles ein. Möglicherweise tut ihm Thomas Weber keinen Gefallen, wenn er ihn auf der Rückseite als den "vielleicht größten Autor, den Österreich derzeit zu bieten hat" tituliert. Vehement widersprechen wird man nach "Durch die Zeit in mein Zimmer" aber auch nicht. Nicolas Mahler gestaltet Goubran nicht von ungefähr regelmäßig das Cover.


Alfred Goubran: Durch die Zeit in meinem Zimmer. Braumüller, 196 S., € 19,90

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